Esther Grau

inspired by dreams

Buchextrakt (8) Sebastian Fitzek: Splitter

April9

Ein Psychothriller im besten Sinne des Wortes.

Streetworker Marc Lucas quält die traumatische Erinnerung an seinen selbst verschuldeten Autounfall, bei dem seine schwangere Frau starb. In seiner Not gerät er an eine experimentell orientierte Berliner Psychiatrie, die Traumapatienten Hilfe mit einer neuartigen Gedächtnisbehandlung verspricht: Amnesie als Therapie

Der wahre Albtraum beginnt aber erst, als Marc die Klinik verlässt. Seine Wohnungsschlüssel passen nicht mehr, die Handykontakte sind gelöscht, Bezugspersonen erscheinen plötzlich undurchsichtig. Wahn und Wirklichkeit verschwimmen, aber der Protagonist weiß die meiste Zeit nicht, auf welcher Seite er sich gerade befindet. Die Perspektive verschiebt sich – gerade auch für den Leser – immer wieder. Unglaublich spannend und authentisch erzählt. 

“Früher dachte man, es gäbe für jede Erinnerung einen ganz bestimmten Platz im Gehirn. Aber dem ist natürlich nicht so.”

Bleibtreu rollte mit seinem Sessel über das Parkett, wobei er geschickt an den Aktenbergen auf dem Boden vorbeimanövrierte. Dann öffnete er einen laminierten Büroschrank und kam mit dem Modell eines Gehirns zurück, das er mit Mühe zwischen das Telefon und einen hantelgroßen Briefbeschwerer zwängte, direkt auf einer aufgeschlagenen Fachzeitschrift für Neuropsychologie.

“Ich will es Ihnen demonstrieren.”

Das aus einem künstlichen grauen Schwamm geformte Modell war etwa so groß wie ein Kinderfußball und steckte auf einem Holzstab in einem polierten Standfuß. Als Marc seine Aufmerksamkeit wieder Bleibtreu zuwandte, hielt der zwei gläserne Ampullen in beiden Händen. Die linke war mit roter, die rechte mit einer durchsichtigen Flüssigkeit gefüllt.

“Beginnt jetzt die Zaubervorstellung?”

“So ähnlich. Passen Sie gut auf.”

Der Professor brach die linke Ampulle am Hals ab und hielt sie schräg über die graue Gehirnmasse.

“Ein Gedanke ist wie ein Tropfen.” Mit diesen Worten ließ er etwa einen Milliliter der blutroten Tinte auf den Kortex des Modells perlen. Sofort bahnte sich der Tropfen seinen Weg durch das Kapillarsystem des Schwamms.

“Wenn ein Erlebnis zu einer Erinnerung wird, lagert diese sich in Abermillionen von Nervenverbindungen ab.”

“Den Synapsen.”

“Sehr richtig. Sehen Sie genau hin, Marc.” Der Professor tippte mit einem Kugelschreiber auf die verschiedenen Regionen des Gehirns, die sich nach und nach rot färbten. “Jede Erinnerung ist in unzähligen Querverbindungen gespeichert. Ein Motorengeräusch, Menschen, die sich streiten, ein Geruch, ein bestimmtes Lied, das vielleicht im Radio lief, der Blick auf das Wasser, das Rauschen der Blätter im Wald, all das kann Ihr Gedächtnis reaktivieren und die schrecklichen Erinnerungen an den Unfall wieder hervorrufen.”

“Und wie wollen Sie ihn aus meinem Kopf löschen?”, fragte Marc.

“Gar nicht.” Bleibtreu brach die andere Glasampulle. “Jedenfalls nicht isoliert. Wir könne leider nur Ihr gesamtes Gedächtnis tilgen.”

“Moment mal.” Marc räuserpte sich und tippte gegen einen letzten grauen Bereich am Vorderhirn des Modells. “Habe ich das richtig verstanden, Sie wollen wir alle Erinnerungen nehmen?”

“Die künstliche Herbeiführung einer totalen Amnesie. Ja. Das ist die einzige Möglichkeit. Daran forschen wir.”

Bleibtreu drehte das Modell zu Marc, damit dieser besser sehen rollte, wie sich die rote Farbe immer weiter ausbreitete.

“Ein Gedächtnisverlust wird im Wesentlichen durch drei Faktoren ausgelöste”, zählte er auf. “Durch starke traumatische Erlebnisse, die der menschliche Geist vergessen will, durch Gehirnschädigungen infolge eines Unfalls und durch chemische Wirkstoffe wie Betäubungsmittel.

Bleibtreu schüttete jetzt den farblosen Inhalt der zweiten Ampulle über den Schwamm, und Marc beobachtete erstaunt, wie die Rotfärbung an einigen Stellen sofort wieder schwächer wurde.

“Lassen Sie mich raten. Sie setzen auf die Chemie und haben eine Alzheimer-Pille entwickelt, die ich schlucken soll?”

“So in etwa. Es ist natürlich komplizierter, aber im Prinzip haben Sie recht.” (S. 64-66)

 

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Vom Schreiben

März31

Thomas Wollinger bringt es auf den Punkt:

“Die Leute fragen mich immer, wie ich das alles so durchkonstruiere in meinen Romanen, aber da ist nichts Konstruiertes, das ist alles nur passiert, das passiert in meinem Kopf und immer wieder und hört nicht auf. Mein Schreiben ist dann gut, wenn es bloßes Beobachten ist.”

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Buchextrakt (7) Jasper Fforde: Im Brunnen der Manuskripte

März30

Mal wieder ein ganz wunderbares Buch, das vor allem durch  Sprachspielereien und fantastischen Einfallsreichtum jeden Bücherfreund besticht. Und weil das so schön ist, fällt der Buchextrakt dieses Mal etwas länger aus.

Der Hintergrund: Alle jemals veröffentlichten Bücher werden in der Großen Bibliothek aufbewahrt. Aber in den Untergeschossen dieser Bibliothek, im Brunnen, lagern die unfertigen Manuskripte. Sie bestehen nicht einfach aus Wörtern, sondern sind lebendige, eigenständige Welten, in denen es,  je nach Genre, ganz schön abgeht. 

Die Story: Hauptfigur Thursday Next zieht sich in das ziemlich lahme Manuskript des Kriminalromans Caversham Heights zurück, um sich vor ihren Widersachern zu schützen. Sie arbeitet für Jurisfiktion, deren Aufgabe es ist, die Ordnung in den Büchern zu wahren. Ein ziemlicher Geheimagentenjob. Ermöglicht wird das Arrangement durch das FigurenAustauschProgramm, das gelangweilten Romanfiguren eine Auszeit in der wirklichen Welt erlaubt, während “wirkliche” Menschen in ihr Buch springen, um die entsprechende Rolle weiterzuspielen. Im folgenden Auszug trifft Thursday Next zum ersten Mal auf  ihre Tandempartnerin Mary:

“‘Ich bin auch keine Romanfigur’, sagte ich, ‘sondern wirklich.’

‘Ach!’ sagte Mary mit weit aufgerissenen Augen. ‘Eine Außenländerin.’  Sie berührte mich neugierig mit ihrem schlanken Zeigefinger. ‘Ich habe noch nie mit jemandem von der anderen Seite zu tun gehabt’, sagte sie und schien erleichtert, als ich bei der Berührung nicht in tausend Stücke zersprang. ‘Sagen Sie, stimmt das eigentlich, dass Sie sich regelmäßig die Haare schneiden müssen? Ich meine, wachsen Ihre Haare tatsächlich?’

‘Ja’, lächelte ich. ‘Und meine Fingernägel auch.’

“Wirklich?’ murmelte Mary. ‘Ich habe Gerüchte darüber gehört, aber ich dachte, es wäre bloß eine dieser außenländischen Legenden. Ich vermute, dann müssen Sie auch essen, damit Sie am Leben bleiben, nicht wahr? Nicht bloß, wenn es die Geschichte verlangt, oder?’

‘Es ist eine der größten Freuden im Leben’, erklärte ich ihr. Ich hatte nicht die Absicht, ihr von den Nachteilen des wirklichen Lebens wie Karies, Inkontinenz oder Altersdemenz zu erzählen. Mary lebte in einem Zeitfenster von etwa drei Jahren, sie würde nie heiraten oder Kinder kriegen, sie alterte nicht, sie musste nicht sterben, sie wurde nie krank, sie veränderte sich überhaupt nicht. Dass sie resolut und stark erschien, lag nur daran, dass sie so geschrieben war. Trotz all ihrer Qualitäten war Mary bloß eine Kontrastfigur zu Jack Spratt, dem Privatdetektiv in Caversham Heights, die loyale Zuhörerin, der Jack alles erklärte, was der Leser wissen musste. Sie war das, was der Schriftsteller eine Expositionshilfe nennt, aber ich wäre nie so unhöflich gewesen, ihr das zu sagen.” (S. 10)

Thursday übernimmt Marys Position im Roman, der Plot klebt als Orientierungshilfe am Kühlschrank und gewährt viel Handlungsspielraum – schließlich befindet sie sich in einem unvollendeten Manuskript. Dass dieser vermeintlich sichere Rückzugsort aber auch Gefahren birgt, erfährt sie bald. 

“Beim Weitergehen kamen wir an einem Laden für Zeitangaben vorbei, der Bald darauf hieß. Er hatte gerade ein Sonderangebot Kleine Pausen und Wechsel der Jahreszeiten. ‘Was passiert eigentlich mit Büchern, die nicht veröffentlicht werden?’ fragte ich, weil ich herausfinden wollte, ob die Gefahr für die Figuren in Caversham Heights wirklich so groß war.

‘Die Durchfallquote ist hoch’, musste Snell zugeben, ‘und meistens liegt es an mangelnder Qualität. Aber nicht immer. Bunyan’s Bootscaper von John McSquurd ist eins der besten Bücher, die je geschrieben wurden, aber der Autor gibt es einfach nicht aus den Händen. Das meiste, was nicht fertig gestellt oder immer wieder abgelehnt wird, bleibt so lange hier unten, bis es auseinandergenommen und anderweitig benutzt wird. Manche Texte sind allerdings so schlecht, dass sie verschrottet werden müssen: Die Wörter werden von den Seiten genommen und in die TextSee geworden.’ “(S. 60)

Erst nachträglich habe ich erfahren, dass Im Brunnen der Manuskripte nach Der Fall Jane Eyre und In einem anderen Buch das dritte Buch der Reihe um Thursday Next  ist – und es gibt auch noch zwei Nachfolgebände. Mag sein, dass mir dadurch der eine oder andere Bezug entgangen ist, trotzdem kann man das Buch als eigenständiges Werk gut genießen.

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Gibt’s ja gar nicht?!

März18

Heute mal heiteres Titelraten: Das kleine Quiz stellt bizarre Buchtitel vor. Ausgedacht oder tatsächlich auf dem Markt? Das ist die Frage. Viel Spaß!

Mein Favorit: Die kleine Strickkonditorei – Kuchen, Törtchen und Gebäck aus Maschen

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Buchextrakt (6) Tony Hawks: Mit dem Kühlschrank durch Irland

März16

Wozu verlorene Wetten und die Lust, sich auf ein Abenteuer einzulassen, führen können, beweist allein der Titel des Buches. Der Engländer Tony Hawks macht sich ohne große Vorbereitung, aber mit Hilfe der irischen Radiosendung Gerry Ryan Show auf eine Reise rund um Irland, per Anhalter immer an der Küste entlang. Mit Rucksack und Kühlschrank. Er begegnet exzentrischen, aber meist freundlichen Zeitgenossen und lernt viele lokale Gepflogenheiten kennen:

„Bald wandte sich die Unterhaltung den maritimen Traditionen der örtlichen Fischer zu, von denen mich einige Aspekte stark beunruhigten. Vor vielen hundert Jahren hatten die Fischer in dieser Gegen den schönen Brauch eingeführt, niemanden zu retten, der ins Wasser fiel. Das hatte nicht mit der kleinlichen Vorstellung ‚Du bist selbst reingefallen, jetzt sieh zu, wie du selbst wieder rauskommst’ zu tun, sondern mit dem Aberglauben, dass jede Begegnung mit der See vorherbestimmt sei und jeder Rettungsversuch eine Behinderung des Schicksals und des natürlichen Gangs der Dinge darstelle und nur dazu führen könne, dass die Tragödie einen selbst oder die eigene Familie ereilte. Wenn also ein Seemann Pech hatte und über Bord fiel, eilten ihm die Kollegen nicht etwa zu Hilfe, sondern stellten sich vermutlich an die Bordwand und riefen ihm zu: „Wirf uns deine Uhr herüber!“ oder „Kann ich deinen Esstisch haben?“ (S. 112)

Seinen Trip hält der „Fridge Man“ selbst abwechselnd für eine Schnapsidee und die coolste Sache der Welt. Das hängt oft stark vom Wetter ab. Denn es regnet oft. Sehr oft. Aber auch hierbei lässt ihn die irische Lebensweisheit nicht im Stich:

„’Wenn man die Berge sieht, regnet es bald. Sieht man sie nicht, regnet es längst.’“ (S. 86)

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Kaffeeklatsch 2.0

März13

Jede Zeit bringt ihre eigenen Erfindungen hervor. Wer fürchtet, dass ihm der Gesprächsstoff ausgeht, wenn er eine persönliche Unterhaltung führt, bekommt jetzt elektronische Unterstützung.

Die emotional objects von Adam Farlie kommen den Kommunikationsgewohnheiten all jener Menschen entgegen, die sich in der Welt der neuen Medien so zu Hause fühlen, dass sie es im eigenen zu ungemütlich finden. Mit dem Kaffeeservice “sofi” lässt sich jede Konversation aufpeppen.  Durch eingebaute Chips steht die Verbindung zum Internet. Dort werden relevante Informationen aus social communities wie facebook etc. gezogen und direkt auf die Untertasse projiziert.

Das Geschirr als virtueller Souffleur. Traurig? Witzig? Auf jeden Fall dem Zeitgeist verpflichtet.

via spoonfork

Buchextrakt (5) Glavinic, Thomas: Das bin doch ich

März6

Glavinics satirischer Blick auf den Literaturbetrieb liest sich unterhaltsam und steckt voller Anspielungen auf reale Gegebenheiten, ganz offensichtlich zum Beispiel in der Namensgleichheit von Autor und Ich-Erzähler. Dennoch und trotz des Titels will „Das bin doch ich“ eben keine Autobiografie, sondern ein Roman sein.

Bei einem großen Verlag unter Vertrag zu sein, bedeutet noch lange nicht, den Schriftstellerhimmel erreicht zu haben. Das macht Glavinic deutlich, wenn er sich auf der Suche nach literarischer Anerkennung etwa mit dem Erfolg des befreundeten Schriftstellerkollegen Daniel Kehlmann auseinandersetzen muss. Denn während der erzählten Zeit erlebt Kehlmanns Vermessung der Welt gerade seinen kometenhaften Aufstieg zum Bestseller. Glavinic erfährt die aktuellen Verkaufszeilen sofort per SMS …

Die ausgeprägte Neigung des Ich-Erzählers zu Hypochondrie und Trunksucht des Ich-Erzählers (Alkohol spielt gefühlt auf jeder dritten Seite eine Rolle) fand ich ein bisschen anstrengend. Denn die Alltagsanekdoten gleiten dadurch für mein Empfinden gelegentlich ins Banale ab.

Gold sind dafür selbstironische Begebenheiten wie die folgende. Man muss dafür wissen, dass Glavinic bei seinen Besuchen auf dem Wiener Naschmarkt regelmäßig einem Bettler begegnet, dem er trotz oder wegen seines Unbehagens ebenso regelmäßig Geld gibt, ohne in näheren Kontakt mit diesem personifizierten „schlechten Gewissen“ zu treten. Anders dieses Mal:

„Am Naschmarkt begegnet mir mein schlechtes Gewissen. Wir grüßen einander, ich drücke ihm die Zwei-Euro-Münze in die Hand, er dankt und zeigt auf das Leseexemplar von Die Arbeit der Nacht, das ich mit mir trage.

„Was hast du denn da?“

„Ein Buch“, sage ich zögernd.

„Was denn für eines? Zeig her! Aaah, von Glavinic! Der ist toll! Nicht wahr?“

Fassungslos schaue ich auf seinen zahnlosen Mund.

„Kennst du sein erstes?“ fragt der Bucklige. „Den Krimi? Den Kamera … Kameramann?“

„Kameramörder?“

„So heißt er! Kameramörder“! Das ist ein tolles Buch! Hast du es gelesen?“

Ich habe nicht viel Zeit zu lesen.’“ (S. 233)

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Inspiration (2)

Februar26

Aus aktuellem Anlass hier noch ein Artikel zur Inspiration: Der Guardian hat persönliche Schreibtipps bekannter Autor(inn)en veröffentlicht. Eine gute Gelegenheit, anderen Schreibenden bei der Arbeit über die Schulter zu sehen.

Es liegt in der Natur der Sache, dass die Regeln einander widersprechen. Worin sich jedoch alle einig sind:  Die beste Methode, Schreiben zu lernen, ist zu schreiben.

Einige Empfehlungen lesen sich darüber hinaus sehr unterhaltsam,  andere sprechen aus einer Erfahrung, die mehr als nur das Schreiben bereichert.

Meine fünf Favoriten:

“Imagine that you are dying. If you had a terminal disease would you ­finish this book? Why not? The thing that annoys this 10-weeks-to-live self is the thing that is wrong with the book. So change it. Stop arguing with yourself. Change it. See? Easy. And no one had to die.” (Anne Enright)

 “You see more sitting still than chasing after.” (Jonathan Franzen)

“Honour the miraculousness of the ordinary.” (Andrew Motion)

“Editing is everything. Cut until you can cut no more. What is left often springs into life.” (Esther Freud)

“Remember writing doesn’t love you. It doesn’t care. Nevertheless, it can behave with remarkable generosity. Speak well of it, encourage others, pass it on.” (AL Kennedy)

Im Sinne der letzten Empfehlung Dank an Anke Gröner und die Kaltmamsell für diesen Schatz.

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Buchextrakt (4) Hoeg, Peter: Das stille Mädchen.

Februar25

Im Mittelpunkt steht ein Clown, dessen Gespür für Menschen sein außergewöhnliches Gehör ist. Er nimmt die ganze Welt vor allem über diesen dominanten Sinn wahr, das funktioniert ähnlich wie mit dem Geruchssinn in “Das Parfum“. Gefallen hat mir neben der Krimispannung im kalten Kopenhagen (Winterlektüre!) vor allem die sprachliche Beschreibung dieser sinnlichen Besonderheit.

“Er trank aus seinem Glas. Mitten in der Niederlage erschienen ihm alle Geräusche ganz nah. Kein Monat hatte solche Geräusche wie der April. Die Bäume noch nackt. Kein Laub, das Widerhall und Streuung dämpfte. Er hörte den letzten Berufsverkehr aus Glostrup. Das ferne Summen von Ring 4. Die Vögel im Moor. Die Stimmen der Näherinnen. Die Verheißung des Sonnenuntergangs. Des Feierabends. Zugleich nicht ganz anwesend. Ein Teil ihres Systems war bereits auf dem Heimweg. Die meisten hatten Kinder. Wenn Frauen Kinder bekamen, wurden ihre Stimmen schwer. Es war eine ostinate Schwere.” (S. 51)

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Globish

Februar23

Neulich wurde ich Ohrenzeuge einer spannenden Sprachbegegnung:

Eine französische Austauschstudentin bestellt auf Deutsch ein Menü beim Chinesen an der Ecke. Obwohl beide lediglich über grundlegende Deutschkenntnisse verfügen, klären sie eine Menge Details über Auswahl, Zutaten, Preise, Zubereitungsart und -dauer. Mehrfach schlägt der Dialog Umwege ein, um einzelne Wörter zu klären. Aber beide machen sich verständlich, sogar ohne großen Einsatz von Händen und Füßen. Ich bin beeindruckt.

Heute entdeckte ich einen passenden Artikel im Magazin brandeins, der dieses Phänomen aufgreift. Danach hat die beschriebene Verständigung nicht trotz, sondern wegen der gleichermaßen geringen Deutschkenntnisse funktioniert. Dahinter steht die Erfahrung, dass nicht die perfekten Fremdsprachenkenntnisse für erfolgreiche Kommunikation entscheidend sind, sondern die Verständigung auf Augenhöhe. Wenn einer der Gesprächsteilnehmer seine besseren Sprachkenntnisse allzu deutlich artikuliert, beeinflusst dies ihre (Geschäfts-)Beziehung durchaus negativ. Und das gilt eben nicht nur beim Chinesen an der Ecke, sondern auch im höheren Management.

Fazit: Nicht länger am perfekten Englisch feilen, sondern im Zweifel auf Globish vertrauen.

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