Esther Grau

inspired by dreams

Buchextrakt (1) Widmer, Urs: Ein Leben als Zwerg.

Februar2

Klassische Rezensionen sind gut und schön – mich persönlich haben sie jedoch oft in die Irre geführt, sodass ich mich nach der Lektüre fragen musste, ob ich wirklich dasselbe Buch wie der Rezensent gelesen habe. Daher halte ich mich nur noch an Leseproben. Sehr schön übrigens hier präsentiert, wo unter der Rubrik “Neues auf dem Nachttisch” traditionell der jeweilige Buchanfang veröffentlicht wird. Ich habe mich allerdings für eine etwas persönlichere Auswahl entschieden, indem ich in der Reihe “Buchextrakt” meinen jeweiligen Lieblingsauszug eines Textes veröffentliche. Und hier das erste Werk:

Wie der Titel nahelegt, schreibt hier ein Zwerg aus seinem Leben. Dieses spielt sich hauptsächlich im Umfeld jenes Kindes ab, das den Spielzeugzwerg als erstes mit seiner Liebe erweckt und damit zu Bewusstsein und Eigenleben verholfen hat. Jenes Kind ist inzwischen erwachsen und gibt nebenbei den ein oder anderen netten Einblick ins Schriftstellerleben.

Mein Bub, jetzt, als älterer Herr, sitzt hie und da an dem Tisch, barfuß, in kurzen Hosen und einem T-Shirt, und schreibt auf seiner Schreibmaschine. Er trägt dann eine Brille, eine ähnliche wie einst Dunkelblöe, die er immer wieder putzt, nicht weil sie schmutzig wäre, denke ich, sondern weil er nicht weiterweiß und die Zeit der Leere überbrücken will. Dann wieder tippt er wie ein Besessener, wie der rasende Roland, so daß die vollgeschreibenen Papiere nur so aus der Rolle fegen, tölpeligen Vögeln gleich durchs Zimmer flattern und irgendwo auf dem Parkett landen. Einmal, vor nicht allzu vielen Tagen, flog eins bis zu mir ins Regal und legte sich auf mich. Da lag ich, begraben für eine oder zwei Minuten, bis der Bub, der alte Mann, das Blatt wieder von mir weghob. “Na, Vigolette”, sagte er. “Wie geht’s uns so?” Natürlich konnte ich ihm nicht sagen, wie es uns so ging – daß wir in einem beunruhigenden Tempo zerbröselten, wie zwei – , ich war ja spielzeugstarr und Zwergenstimmen sind so leise, daß sie von Menschenohren, wenn überhaupt, nur gehört werden können, wenn diese direkt vor dem Zwergenmund sind. In so eine Lage komme wir nie, mir jedenfalls ist es nie passiert; und ich wüßte dann vielleicht gar nicht, was sagen. Small talk mit einem Menschen, mit diesem Menschen, das wäre mir nicht möglich. Zwerge reden auch mit Zwergen Wesentliches, im wesentlichen. Ob mir aber mit ihm, so aus dem Stand, der Satz gelänge, der alles umfaßte? (S. 15-16)

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