Esther Grau

inspired by dreams

Buchextrakt (9) Dacia Maraini: Gefrorene Träume

April18

Eine Schriftstellerin kommt zu ihren Geschichten, indem sie von ihren Romanfiguren besucht wird und deren Erzählungen lauscht. Doch dieses Mal schreibt sie schon längst an einer Geschichte, als sich eine gewisse Zaira in ihr Bewusstsein drängt und sie nicht mehr verlässt. Ob die Autorin will oder nicht – nach und nach erfährt sie die Geschichte von Zairas Familie aus den Abruzzen, häppchenweise, als kleine, verlockende Anekdoten, denen sie nicht widerstehen kann. Sie handeln mal von dieser, mal von jener Familiengeneration. Deshalb vorweg als Tipp: Am Ende des Buches gibt es einen gezeichneten Stammbaum, der den Überblick bewahren hilft.  

Nach und nach stellt sich heraus, dass die fremde Figur gar nicht so “dahergelaufen” kam wie gedacht. Die Ebene der Schriftstellerin interagiert zunehmend mit Zairas Erzählungen und es entstehen neue Verbindungen: 

Die Schriftstellerin mit den kurzen Haaren ist in demselben Wald einmal einem Schäfer aus Foggia begegnet, einem großen, kräftigen und intelligenten jungen Mann, der Bücher las – sogar einen Roman von ihr hatte er gelesen – , während er mit den Schafen umherzog. Er hatte ein abgeschlossenes Studium, verzichtete aber darauf Lehrer zu werden, weil sein Vater mittlerweile gestorben war und ihm einige hundert Schafte hinterlassen hatte. „Ich habe alles mal überschlagen und dabei festgestellt, daß ich mit Wolle und Milch mehr verdiene. Also habe ich beschlossen, den Beruf meines Vaters zu ergreifen. Die Schafe gehören ja sowieso schon zur Familie.“

Hin und wieder machte sie sich auf und drang tief in den Wald von Ermellina ein. Sie wollte diesen Schäfer wiedertreffen, mit der geschliffenen Sprache und den lächelnden großen Augen, die dran gewöhnt waren, bei den Worten der Bücher zu verweilen. Auch er hatte ein Mobiltelefon in der Tasche, obwohl mitten im Wald von Ermellina kein Netz zum Telefonieren zur Verfügung steht. Außerdem besaß er ein großes blaues Auto mit Klimaanlage, das immer in der Nähe des Pferches geparkt war. Jetzt hat sie ihn schon eine ganze Weile nicht mehr gesehen, wer weiß, wo er sich aufhält“ Ist er etwa auch verschwunden? Warum der Schäfer, dem Zaira begegnete wohl so ganz anders ist als der, den sie selbst tatsächlich im Wald von Ermellina kennengelernt hat?  Ein literarischer Kunstgriff? Der Wunsche, eine glaubwürdigere Figur zu schaffen? Wann trifft man schließlich schon mal auf einen Schäfer, der Bücher liest und die Universität besucht hat? (S. 118)

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