Tote Fliegen, steinerne Bücher, fliegende Quanten: Nachlese zur documenta (13)
Wie erzeugt man Spannung? Auf der documenta (13) in drei wirksamen Varianten: Man entzieht Ausstellungsstücken den Besucherblicken, um a) einen Guckkasten davor zu bauen, vor dem sich alle drängeln, b) sie mit Tücher abzudecken, die der Besucher nur einzeln lüften kann oder c) den Zugang zum Raum zu limitieren, sodass die Warteschlange andere neugierig macht.
Fridricianum am Friedrichsplatz
Das Erdgeschoss des Fridericianums empfängt den Besucher leer. Nichts als Wind und Töne schweben durch die weißen Räume. Ryan Ganders „leichte Brise“ (67) spricht an heißen Sommertagen auch die weniger Kunstinteressierten an.
Zu sehen gibt es erst einmal wenig, wenn man von der Schlange absieht, die für „The Brain“ ansteht. Die Rotunde beherbergt das Gehirn der Ausstellung, ein buntes Kuriositätenkabinett diverser Objekte quer durch die Jahrtausende, darunter auch die vielzitierten Habseligkeiten Hitlers.
Im Obergeschoss irritiert mich Ida Applebroog (13). Ihr Raum ist voller Papiere „zum Mitnehmen“. Handschriftliche Notizen, Briefe, Zettel, persönliche Fetzen aus fremden Leben, die sich für mich zu intim anfühlen, um sie wirklich zu behalten. Von den Wänden starren affengesichtige Menschen und sozialkritische Statements.
Ein paar Schritte weiter betrete ich einen Physikraum (192). Ein meterlanges Whiteboard mit mathematischen Formeln vermittelt Laboratmosphäre. Auf Tischen sind kleine Aufbauten arrangiert, die die wichtigsten Experimente der Quantenphysik wie z. B. das Doppelspaltexperiment zeigen.
Die Experimente sind erstaunlich überschaubar, erinnern eher an Physikunterricht als an die Revolution eines Weltbildes. Mittendrin der Physiker Anton Zeilinger, der den vielen Fragenden Rede und Antwort steht. Trotzdem zeugt der vorherrschende Ausdruck auf den Besuchergesichtern von Ratlosigkeit. Neben den Experimenten liegen große Schreibblöcke, die ausdrücklich dazu ermuntern, Feedback aufzumalen oder zu notieren. Neben Blümchen, Bäumen und Explosionen prangt ein großes HÄ?
Schließlich komme ich an einem Glaskasten vorbei, der von allen Seiten fotografiert wird. Was stellt er aus? Tote Fliegen. Kurz fühle ich das Vorurteil der Absurdität moderner Kunst bestätigt. Doch es steckt natürlich mehr dahinter. Pratchaya Phinthongs „Sleeping Sickness“ (136) zeigt ein Pärchen Tsetsefliegen, die in Afrika die Schlafkrankheit epidemieartig verbreiten. Die Fliegenpopulation – und damit auch die Krankheitsausbreitung – durch Fallen einzugrenzen, ist Anliegen des Künstlers.
Im Zwehrenturm wartet noch ein feines Projekt: Bücher – nicht aus Papier, sondern aus Stein. „What Dust Will Rise?“ (144) des Künstlers Michael Rakowitz zeigt mit den Steinmetzarbeiten Stellvertreter der originalen Exemplare aus der kurhessischen Landesbibliothek, die früher im Fridericianum aufbewahrt und bei einem Bombenangriff im Zweiten Weltkriege größtenteils zerstört wurde. Ein paar letzte, fast verkohlte Exemplare sind als letzte Überbleibsel auch ausgestellt. Die übrigen erinnern gleichsam als Grabsteine an diese Bücherverbrennung.
Der Stein (Travertin), aus dem die Rekonstruktionen gemacht sind, erzählt noch eine andere Geschichte: Er stammt von zwei Buddhafiguren, die in den Bergen von Bamiyan von den Taliban gesprengt wurden.
Mehr im nächsten Bericht zur documenta (13) …