Esther Grau

inspired by dreams

Buchextrakt (23): Alfred Kubin: Die andere Seite.

Juni22

Ein ungewöhnliches Angebot erhält ein Zeichner von seinem alten Schulfreund Patera: Dieser lädt ihn in sein Reich ein – und meint damit keinen Fincaurlaub auf Mallorca. Vielmehr hat der Multimillionär Patera ein eigenes Traumland geschaffen, das er mit ausgewählten Personen bevölkert. Obwohl der Zeichner das Ganze zuerst für eine Schnapsidee hält, lässt er sich dank eines üppige Startkapitals und ohnehin vorhandener Auswanderungspläne überzeugen.

Mit Frau und Zug reist er bis tief ins Herz Asiens. Anfang des 19. Jahrhunderts – der Roman entstand 1908 – dauerte es qualvolle zehn Tage, bis er schließlich die Traumstadt Perle erreicht. Hier hat man es sich in der Vergangenheit behaglich eingerichtet, das heißt ungefähr im Jahr 1860, lebt in ewigem Dämmerlicht und wie im Museum. Symbolik lässt grüßen.

Nichts Neues darf in das hinter Mauern eingeschlossene Traumreich mitgebracht werden. Selbst die Bauwerke sind Fundstücke aus aller Welt, die in Perle wieder aufgebaut wurden. Die ganze Stadt ein einziger Antiquitätenladen, Sammeln die Leidenschaft der Einwohner – wie sie auch selbst aus aller Welt zusammengesammelt sind, je exzentrischer, desto besser.

Was auf den ersten Blick wie das Leben in einem gewöhnlichen Städtchen anmutet, folgt bei näherem Hinsehen ganz eigenen Gesetzen. Seltsame Kulte werden betrieben, Bürokratie und Wirtschaft gehorchen undurchsichtigen Regeln.

Surreale Situationen prägen den Alltag im Traumland, dessen Faszination sich im Verlauf dieses phantastischen Romans in Beklemmung verwandelt. Mit soghafter Traumlogik erzählt, verwischt das Leben in Perle an den Grenzen der Wirklichkeit.

“An einem meiner ersten Tage, da wir in Perle waren, wollte ich einen Stadtplan kaufen. Ich betrat eine der großen Trödlereien in unserer Straße, ich glaube die nebenan von Max Blumenstich.

‘Einen Stadtplan? Die neuen sind noch nicht eingetroffen, eie ältere Ausgabe tut’s wohl auch?’ Es wurde gesucht und gekramt, zwischen Hirschgeweihen, Kronleuchtern und alten Schatullen war absolut nichts zu finden. Endlich brachte der Kommis ein scheußliches Tintenfass aus Gussbronze.

‘Nehmen Sie dies, das können Sie sicher brauchen! Das müssen Sie haben, eine Notwendigkeit! Nur zweiundsiebzig Gulden.’ Mit schmelzender Stimme bot er seine ganze Überredungskunst auf. Ich gab ihm einen Gulden und erhielt noch eine Nagelschere als Zugabe. Neulinge wollten aus diesen Zuständen ein gutes Geschäft machen, mussten aber recht bald einsehen, dass sie dabei ohne den Wirt rechneten. Der, das Traumschicksal, war erbarmungslos: der zusammengeraffte Reichtum zerrann im Handumdrehen. Die Überschlauen mussten nämlich für die unumgänglichsten Lebensmittel Wahnsinnspreise zahlen, oder es regnete Postaufträge. Wurden sie zurückgewiesen, dann ereigneten sich weit ärgere Unannehmlichkeiten, z. B. Krankheiten; die Ärzte waren unerschwinglich. Gläubiger traten auf, die einem nie etwas geliehen hatten, und forderten ihr Geld. Aber da half keine Versicherung, sie brachten die Zeugen gleich mit. So glich sich alles immer wieder aus, und man hatte keinen Nutzen und keinen Schaden davon. Der unsichtbare Rechner ließ nicht mit sich handeln. Sobald ich diesen merkwürdigen Modus erfasst hatte, ging alles gut. (S. 62-63)”

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