Esther Grau

inspired by dreams

Tag 1 – Das Buch, das du zurzeit liest Buchextrakt (15) Irmgard Keun: Das kunstseidene Mädchen

Juli12

Sehr unbedarft mit der Lektüre begonnen, nur mit einer unbestimmt positiven Assoziation zu Autorin und Titel im Hinterkopf  mitten ins Lesevergnügen gesprungen. Bei den ersten Zeilen gedacht, dieser unbekümmerte Schreibstil, wie man denkt und spricht – das ist bestimmt eine Bloggerin (!). Ein paar ungewohnte Redewendungen für Soziolekt gehalten, bis ich  über das “Grammophon” stolperte und doch mal das Erscheinungsjahr nachgeschlagen habe. 1932. Oha?!

Umso interessierter weitergelesen und mich an der Paradoxie gefreut, dass ein Buch gleichzeitig ein anschauliches Zeitzeugnis ablegen und in seinem Kern so modern sein kann.

Das kunstseidene Mädchen ist eine junge, emanzipierte und lebenshungrige Frau, die sich in einer armen, arbeitslosen Zeit mit allen Mitteln durchschlägt, die einer mittellosen Frau so zur Verfügung stehen.

“Ich bin in Berlin. Seit ein paar Tagen. Mit einer Nachtfahrt und noch neunzig Mark übrig. Damit muss ich leben, bis sich mir Geldquellen bieten. Ich habe Maßloses erlebt. Berlin senkte sich auf mich wie eine Steppdecke mit feurigen Blumen. Der Westen ist vornehm mit hochprozentigem Licht – wie fabelhafte Steine ganz teuer und mit so gestempelter Einfassung. Wir haben hier ganz übermäßige Lichtreklame. Um mich war ein Gefunkel. Und ich mit dem Feh. Und schicke Männer wie Mädchenhändler, ohne dass sie gerade mit Mädchen handeln, was es ja nicht mehr gibt – aber sie sehen danach aus, weil sie es tun würden, wann was bei rauskäme. Sehr viel glänzende schwarze Haare und Nachtaugen so tief im Kopf. Aufregend. Auf dem Kurfürstendamm sind viele Frauen. Die gehen nur. Sie haben gleiche Gesichter und viel Maulwurfpelze – also nicht ganz erste Klasse – aber doch schick – so mit hochmütigen Beinen und viel Hauch um sich. Es gibt eine Untergrundbahn, die ist wie ein beleuchteter Sarg auf Schienen – unter der Erde und muffig, und man wird gequetscht. Damit fahre ich. Es ist sehr interessant und geht schnell.” (S. 67)

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