Esther Grau

inspired by dreams

Nachtschicht für die Dichterin

März9

Annette von Droste-Hülshoff schickt Levin Schücking einige Gedichte, die er sich für seine Arbeit erbeten hat, mit folgendem Kommentar über die widrigen Umstände ihrer Entstehung:

“Machen Sie damit, was Sie wollen, d. h. drucken Sie es oder nicht; ich mache gar keine Prätensionen mit diesen Gedichten, die in einem Wirrwarr gemacht sind, wie ich desgleichen nie erlebt und nie wieder zu erleben hoffe. Seit zwei Monaten, wo der Onkel so weit hergestellt ist, dass er täglich einige Stunden Besuch ertragen kann, ist’s hier zum schwindligwerden. Alle Tage 3–4 Besuche und jeder 3–4 Mann stark: neun verwandte Familien, vier benachbarte, nebst diversen Pastoren, die sich alle einbilden, jede Woche wenigstens einmal nachsehn zu müssen, wie die Besserung fortschreitet. Der Onkel hat’s bequem: sobald ihm der Lärm zu arg wird, zieht er sich als Rekonvaleszent in seine Privatzimmer zurück, wohin niemand folgen darf; aber Mama und ich führen ein wahres Schenkwirtsleben – wir liegen oft noch im Bette, wenn schon ein Wagen anrollen kömmt, und alle bleiben bis zum späten Abend. Denken Sie, Mama’n bekömmt dies Leben à merveille; sie ist so kregel wie ein Bienchen geworden, und wenn ich an Rüschhaus denke, wo ihr eigentlich jeder Besuch zu viel war, so steht mir der Verstand still.

Ich hingegen kann’s gar nicht aushalten; ich bin den ganzen Sommer leidend gewesen und muss mich täglich über Nacht aufrappeln. Wenn ich mich darin zugäbe, könnte ich jeden Abend bitterlich weinen. […]

Ich habe die Gedichte abends im Bette machen müssen, wenn ich todmüde war; es ist deshalb auch nicht viel Warmes daran, und ich schicke sie eigentlich nur, um zu zeigen, dass ich für Sie, liebster Levin, gern tue, was ich irgend kann. Zum Durchfeilen ist mir nun vollends weder Zeit noch Geistesklarheit geblieben, doch sind mir, wie Sie sehen, unter dem Schreiben allerlei Varianten eingefallen, unter denen Sie – falls Sie die Gedichte aufnehmen, was ich aber, aufrichtig gesagt, nicht erwarte – wählen mögen.”

Abbenburg, 25. August 1845

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