Esther Grau

inspired by dreams

An der Wirklichkeit vorbeigeträumt

Februar6

Fritz Mauthner ist schlecht auf die Sprache zu sprechen. Das mag verwundern, immerhin war Mauthner (1849-1923) Schriftsteller – in erster Linie aber Philosoph. Als solcher kreidet er der Sprache, vor allem aber unserer Wortgläubigkeit, die Beschränkung der menschlichen Wahrnehmung an. Sprache verkürze und vereinfache die Wirklichkeit. Sie werde ihr ebenso wenig gerecht wie ein allgemeines Traumsymbolbuch der individuellen Bedeutung unserer Träume. Mauthner formuliert das in dem wunderbaren Traumtext, auf den ich gerade stieß, viel besser, deshalb hier ein Auszug:

“Es gibt Traumbücher für abergläubische Bettler, und der Verfasser eines philosophischen Werkes ist geneigt, in einem Traumbuche etwas zu sehen, was mit seinem eigenen Werke so wenig zu schaffen hat wie eine Seifenblase mit einer Pyramide. Ich aber fürchte: wenn man absieht von den Diensten, welche die Sprache der Notdurft erweist, ist die Sprache das Traumbuch der armen wortgläubigen Menschheit. Wir haben uns gewöhnt, die Ideenassoziationen des ewig wiederkehrenden Tagestraumes in Worten zu ordnen, weil wir sie im Gedächtnisse behalten wollten. Wir haben unser Gedächtnis durch den Gebrauch der Worte bis zum vermeintlichen Denken gesteigert; und weil wir Worte haben, so glauben wir an sie. Aber nur gebunden an die Worte sind die Assoziationen, nur noch unfreier sind sie geworden durch das Gebundensein. Dann hat man gar die Sprache durch Schrift und Druck noch fester gebunden als durch den Sprachgebrauch und hat geglaubt, noch weiter gekommen zu sein im Denken. Jawohl, bis an die Sterne weit. Wie viel Menschen in Berlin wohnen und wie viel Häuser da stehen, und wie viel Zentner Mehl und Fleisch es im Jahre verbraucht, nur das wissen wir besser durch Schrift und Druck, als es möglich wäre durch die Sprache von Mund zu Mund. Vollends unfrei aber ist durch Schrift und Druck geworden, was von den Assoziationen unserer Vorstellungen schon durch die Bindung an das Wort unfrei geworden war. So belasten alle künstlichen Mittel unseres Gedächtnisses diese Fähigkeit nur, anstatt sie zu bereichern. Eine Befreiung aus dieser Unfreiheit gibt es nicht. Und selbst diese unsere Einsicht in die ernstliche Traumhaftigkeit unseres Denkens ist keine Rettung aus der Nacht in den Tag oder aber aus dem Tagestraum in die nachtwandlerische Sicherheit des Schlaftraums, sondern nur eine vorübergehende Erlösung von dem Alp des Denkens, wie wohl mancher Träumer, inmitten der Angst eines geträumten Schreckens, plötzlich in halbem Erwachen zu sich selber spricht: sei ruhig, es ist alles nicht wirklich.”

Fritz Mauthner: Beiträge zu einer Kritik der Sprache. Bd. 1: Zur Sprache und Psychologie (1906). Kapitel VII: Gedächtnis,  Traum.

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