Esther Grau

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Buchextrakt (21) Günter Grass: Grimms Wörter

Februar6

Warum zur herkömmlichen Grimm-Biografie greifen, wenn man auch den neuen Grass lesen kann? Dass es sich wirklich um ein Doppelpack handelt, wird relativ schnell klar: Günter Grass assoziiert sich fröhlich durchs Alphabet, erzählt dabei aus dem Leben der Gebrüder Grimm – aber auch viel aus seinem eigenen.

Der Titel Grimms Wörter leitet sich vom Deutschen Wörterbuch der Grimms ab, das sie  ebenso systematisch wie hingebungsvoll zusammentrugen. Daher auch Grass’ Untertitel „Liebeserklärung an die deutsche Sprache“. Das (unvollständige) ABC liefert die Struktur des Werkes, das Anekdoten aus Grimms und Grass’ Leben verbindet.

Die unterschiedliche Bedeutung eines Eides ist nur ein Beispiel. Als Professoren an der Göttinger Uni hatten die Gebrüder Grimm einen Eid auf die Verfassung des Königreichs Hannover geschworen. Als Ernst August I. 1837 die Regierung übernimmt und die Verfassung kurzerhand ändert, protestieren die Grimms und andere Gelehrte (die Göttinger Sieben) gegen diesen Verfassungsbruch. Das bedeutete Entlassung, Landesverweis, Geldnot und Abhängigkeit von Gönnern, die sich zum Glück fanden und die Arbeit am Wörterbuch durch ihre Finanzierung erst ermöglichten. Anders dagegen stellt sich Günter Grass’ eigene Haltung zum Eid dar, wie dieser Textauszug zeigt:

„Den Göttinger Sieben – Jacob Grimm voran – ist diese, dem Eid eingeborene Gefährdung als ‚blinder Gehorsam’ nicht bewusst gewesen. Ihnen war Verfassungstreue erstes und letztes Gebot. Der verfasste Text [die Protestschrift] ließ allenfalls Bedenken zu, sein Bestand jedoch war unverbrüchlich. Weshalb auch Wilhelm, bezeichnend für ihn, den Wankelmut und die beflissene Feigheit der mehrheitlichen Göttinger Professoren, über zwanzig an der Zahl, in einem poetischen Bild festhielt: ‚Die Charaktere fingen an sich zu entblättern gleich den Bäumen des Herbstes bei einem Frosttag.’

Mit kommt dazu mein Versuch, mich ‚beim Häuten der Zwiebel’ zu erinnern, in den Sinn: was bleibt und nur zögernd zu berichten ist.

Es geschah auf einer winterstarren Waldlichtung. Siebzehn zählte ich, als wir, ins Karree gestellt, unter frostklarem Nachthimmel auf Führer, Volk und Vaterland sowie auf den Reichsführer der Waffen-SS vereidigt wurden. Satz für Satz sprachen wir nach: ‚Ich gelobe …’ Feierlich war uns, war mir zumute. Nach dem Schwur wurde gesungen: ‚Wenn alle untreu werden, so bleiben wir doch treu …’

Dazu kam es nicht. Das Kriegsende befreite mich von dem beschworenen blinden Gehorsam, ohne dass ich sogleich sehend wurde und begriff, welches Ausmaß an Verbrechen ein Eid, gesprochen in einer Frostnacht, bemänteln kann. Nie wieder würde ich einen Eid leisten.“ (S. 73)

So klar die Struktur, so oft verliert sich der rote Faden im Inhalt. Die assoziativen Bögen wirken in vielen Fällen allzu konstruiert. Insgesamt wäre etwas mehr Grimm im Grass schön gewesen. Eine Hommage mit Einschränkungen.

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